John P. Kotter, Accelerate – Bulding strategic agility for a faster-moving world, Boston 2014 (Harvard Business Review Press).
Vor fast 20 Jahren erschien „Leading Change“ von John P. Kotter, damals, 1996, Harvard Business School Professor. Und nur wenige Jahre nach Erscheinen dieses erstaunlichen Buches war Kotter der wohl am meisten zitierte und am meisten angewandte Autor eines Change-Management-Ansatzes, den heute jeder ernstzunehmende Manager, Change-Berater und Projektmanager auf diesem Planeten kennt.
Das Buch vertiefte damals das bereits ein Jahr zuvor in einem Beitrag für den Harvard Business Review vorgestellte Vorgehen der „8 Schritte“ im Change Management, es wurde inzwischen in 120 Sprachen übersetzt, ist in der amerikanischen Version in zahlreichen Auflagen erschienen und das berühmte 8-Schritte-Modell fehlt heute in keinem Lehrbuch oder Standardwerk über den richtigen Weg beim Management von Veränderungen. Ein Mega-Seller also, eine seltene und erstaunliche Erfolgsgeschichte für ein Buch, in dem sich 1996, also rund 60 Jahre nachdem Kurt Lewin das Feld begründet hatte, keine einzige Fußnote und kein Querverweis auf andere Theorien oder Forschungen fanden. Ein Buch, das allein auf eigenen Studien und Erfahrungen beruhte und John P. Kotter letztlich zu dem machte, was er immer noch ist: einer der einflussreichsten Management-Gurus weltweit und die Koryphäe auf dem Gebiet des Change Management.
Erst 15 Jahre nach dem Erscheinen von Leading Change haben sich einige Wissenschaftler rund um den Kanadier Steven H. Appelbaum daran gemacht, das Modell von Kotter auf seine theoretische Validität und empirische Belastbarkeit zu überprüfen. Das Ergebnis, 2012 veröffentlicht: das Modell ist stimmig, so stellen die Wissenschaftler selber ein wenig überrascht fest und ihr Aufsatz, in dem sie akribisch alle 8 Stufen des Kotter-Modells durchgehen und für gut und richtig befinden, bemüht mehr als 100 (!) Veröffentlichungen und Quellen im Literaturverzeichnis („Back to the future : revisiting Kotter’s 1996 change model“, Journal of Management Development).
Wer also sollte es wagen, das Modell in Frage zu stellen und, nach weiteren 5 Jahren und dem Erreichen des neuen Jahrtausends, auf seine Stimmigkeit und Wirkungsweise in einer von Globalisierung und Digitalisierung geprägten Welt zu überprüfen? Nun, natürlich niemand anderes als der Autor von „Leading Change“ selbst, John P. Kotter. Der ist inzwischen, nach 30 Jahren an der Harvard Business School, emeritiert, und weltweit mit der eigenen Firma Kotter International beratend tätig. Und hat, wiederum nach einer ersten Veröffentlichung eines Artikels im Harvard Business Review Ende 2012 sein neues Buch mit dem programmatischen Titel „Accelerate“ (XLR8) vorgelegt, in dem er das 8-Stufen-Modell auf seine Tauglichkeit angesichts der veränderten Rahmenbedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft überprüft und erweitert. Und auch wenn Kotter die Kontinuität in seinem Denken über Wandel und Wandelfähigkeit von großen Organisationen betont (siehe dazu das Interview in diesem Heft) und der Verlag „Accelerate“ es in eine Linie zu „Leading Change“ und „A Sense of Urgency“ stellt, dokumentiert es dennoch einen Paradigmenwechsel, der nicht zu übersehen ist. Mit der Entdeckung des „zweiten Systems“ der Organisation, sehr deutlich von den Einsichten Daniel Kahnemanns und der Denkschule der systemischen Prozessberatung inspiriert, bewegt sich Kotter einen großen Schritt weg von den mit seinem Namen verbundenen Top-Down-Ansätzen im Change. War Leadership im Sinne der von wenigen Managern des Unternehmens besetzten „Guiding Coalition“ bislang die von Kotter favorisierte „Engine to drive Change“, so ist es jetzt die positive und gestaltungsmächtige Kraft des Netzwerks, das für die Aktivierung einer „Armee von Freiwilligen“ sorgt, die den Wandel im Sinne der Umsetzung einer strategischen Initiative als selbstinitialisierten Prozess realisiert.
Das ist bemerkenswert, zumal für den Beratungsansatz, für den Kotter nach Beendigung der akademischen Laufbahn mit seinem neuen Buch das Fundament legt. Wie eine Changeberatung im Paradigma von Systemdenken, Agilität und Hochleistungsorientierung vorgehen kann, zeigt das Buch anhand detaillierter und aussagefähiger Praxisbeispiele. Diese sind, und hier bleibt sich Kotter einmal mehr selbst treu, mehr als anekdotisch, sondern präzise auf die Erweiterung seines Modells hin ausgearbeitet und im Besten Sinne illustrativ. Ein Buch nicht nur für Pioniere, wie der Verlag wirbt, sondern auch für alle, die durchaus wissen, wohin die Reise im Change gehen soll und sich mit dem Kräftespiel der Initialzündung und einer auf Dauer gestellten Schubkraft näher beschäftigen wollen. Mit anderen Worten: Eine Pflichtlektüre.